Unter Intuition ist mit den Worten von C. G. Jung jene psychologische Funktion zu verstehen, „welche Wahrnehmungen auf unbewusstem Wege vermittelt.“ Die Intuition ist immer dann aktiv, wenn wir das Gefühl haben, Bescheid zu wissen und Einsichten zu haben, ohne diese mit den uns konkret vorliegenden Tatsachen verbinden zu können. Neurologisch betrachtet haben wir hierbei auf unbewusste Inhalte in unserem Gehirn zurückgegriffen. Bruchstücke dieser bis dato unbewussten Informationen gelangen in unser Bewusstsein und verhalten sich dort wie Puzzleteile. Wir versuchen sie zu einemGesamtbild zusammenzufügen, obschon uns noch einige Teile fehlen. Je nachdem, wie gut wir das Puzzlespiel beherrschen, ereilt uns schon eine Vorahnung des endgültigen Bildes, bevor wir es komplett zusammengesteckt haben.

Was Intuition nicht ist

Auch wenn ich weiter oben von „Gefühl haben“ sprach, ist die Intuition nicht mit der Gefühlsfunktion zu verwechseln. Die Inhalte beider Funktionen sind nicht vergleichbar. Die Intuition ist eine Wahrnehmungsfunktion, bei der Gefühlsfunktion handelt es sich nach der jung’schen Terminologie um eine Urteilsfunktion. Der hier angesprochene Begriff der Intuition ist auch nicht immer deckungsgleich mit dessen landläufiger Verwendung. L. Thomson macht darauf aufmerksam, dass Intuition im allgemeinen Gebrauch oft als weibliche Eigenschaft betrachtet wird. Tatsächlich nutzen Männer und Frauen die Intuition jedoch zu gleichen Teilen.
Auch stellt L. Thomson fest, dass die typischen Eigenschaften von SP-Typen – sich spontan auf den Moment einzulassen und genau das Richtige zu tun – oft mit Intuition gleichgesetzt werden. Wie hier bereits näher ausgeführt, ist das Handeln auf der Grundlage von extravertiertem Empfinden in Kombination mit introvertiertem Denken oder Fühlen oft eher schwer in Worte zu fassen, da es das in der linken Gehirnhälfte angesiedelte Sprachzentrum umgeht. Das Handeln scheint daher aus dem Bauch heraus zu geschehen.

Intuitive als Minderheit

Das Verhältnis von S-Typen zu N-Typen beträgt ca. 3/4 zu 1/4 . Diese Zahlen schwanken. Teilweise wird das Verhältnis auch mit 2/3 zu 1/3 angegeben. Fest steht jedoch, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung eine konkrete Wahrnehmung (Empfinden) gegenüber der abstrakten Wahrnehmung (Intuition) bevorzugt. Eine Tatsache, der sich die meisten intuitiven Typen sehr wohl bewusst sind, die sich nicht selten – zumindest in den Anfangsjahren ihrer Schulzeit – als nicht völlig der Norm entsprechend erlebt haben. Je höher der Bildungsweg beschritten wird und je abstrakter die vermittelten Inhalte werden, desto mehr bestimmen intuitive Lehrer die Vermittlung des Lernstoffes und kommen damit dem Geschmack intuitiver Schüler entgegen. Je abstrakter und losgelöster von der praktischen Anwendung das anschließend gewählte Studium ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, verstärkt auf intuitive Mitstreiter zu stoßen. Bei einem Philosophiestudium drücken deutlich mehr intuitive Kommilitonen die Bänke der Hörsäle als Sensoren.

Intuition im Alltag

Unabhängig von den o.g. Zahlen sind alle Menschen in der Lage, diese Funktion zu nutzen. Intuition ist immer dort angesagt, wo wir mit unserem Latein am Ende sind und wir trotzdem gezwungen sind, eine Lösung anzubieten oder umzudenken. Abgesehen von derart verfahrenen Situationen, wird Intuition aber auch gerne spielerisch angewandt, wenn wir auf andere Gedanken kommen wollen.

Extravertierte Intuition (Ne)

Wenn wir die Intuition nach außen richten, sind wir in der Lage Möglichkeiten zu erkennen, die sich nicht offensichtlich aus den vorhandenen Tatsachen ergeben. Beispiele für die Anwendung von Ne:

  • Ein Kreis mit zwei Dreiecken lässt uns den Kopf einer Katze erahnen noch bevor der Schnurrbart gezeichnet ist. Die sich uns aufgrund weniger Striche aufdrängende Erscheinung ist so real, dass es uns schwerfällt, sie nicht wahrzunehmen.
  • Wir hören ganze drei Töne und beginnen damit unseren Lieblingssongs zu summen. Wir erkennen sofort die dahinter verborgene Melodie.
  • Uns begegnet ein Kind mit einem Eis und wir sind uns sicher, dass in der Nähe eine Eisdiele sein muss.
  • Wir werfen einen Brief mit einem Abbild einer 1000 € Banknote direkt in die Altpapiertonne anstatt ihn zu öffnen. Angesichts unserer Vorerfahrung können wir uns sicher sein, dass uns hier keine wertvollen Informationen entgangen sind.
  • Die Gestik und Statur einer Person erinnert uns an einen Bekannten, mit dem wir eine unangenehme Zeit hatten. Ob dies gerechtfertigt ist oder nicht- wir malen uns aus, dass dieser Mensch die schlimmsten Absichten hat.

Aus den o.g. Beispielen ist auch erkennbar, dass introvertiertes Empfinden (Si) und extravertierte Intuition (Ne) einander ergänzen. Während Si die vergangenen Eindrücke abruft, erkennt Ne, was sich hieraus entwickeln könnte. Währen Si sich auf die Vergangenheit bezieht, richtet sich Ne in die Zukunft.
Ne bewirkt, dass wir bereits anhand weniger Fakten entscheidungsfähig sind und keine weitere Zeit auf die genauere Erkundung des Sachverhaltes verschwenden.
Lenore Thomson spricht von der „hit-or-miss“ – Eigenschaft der Intuition. Tatsächlich können wir mit unseren Vermutungen, die sich oft 100 % sicher anfühlen auch schnell eine Bauchlandung erleiden. Die oft recht hohe Fehlerquote intuitiver Geistesblitze ist aus Sicht von L. Thomson ein unangenehmer Nebeneffekt, den wir angesichts des Überlebensvorteils, den uns diese Fähigkeit in der freien Wildbahn einbringt, in Kauf nehmen müssen. „Hätten unsere Vorfahren erst näher hinschauen müssen, um den vermeintlichen Stock auf dem Weg als Schlange zu identifizieren, würden sie nicht lange genug überlebt haben, um uns ihre intuitive Fähigkeiten weiterzuvererben. Evolution neigt dazu, jene Primaten zu bevorzugen, die sich schon eine halbe Meile vom Geschehen weg befinden, bevor sie sicher wissen, dass sie eine Gefahr intuitiv erfasst haben, selbst dann, wenn sie manchmal falsch liegen.“

Introvertierte Intuition (Ni)

Von allen acht Funktionen ist vermutlich diese Funktion die am wenigsten genutzte, zumindest was ihren praktischen Stellenwert im Alltag anbelangt. Entsprechend dürftig scheint die Zahl der praktischen Anwendungsbeispiele, und vermutlich ist dies auch ein Grund für die relativ niedrige Zahl ihrer Hauptanwender.
Lenore Thomson beschreibt den Nutzen der introvertierten Intuition (Ni) im Alltag sinngemäß: „ Die meisten Menschen greifen auf diese Funktion zurück, um mit mehrdeutigen Wahrnehmungen und Bedeutungen klar zu kommen. Sie gibt uns die Möglichkeit zu erkennen, dass eine Situation auf verschiedene Art und Weise interpretiert werden kann. Beispielweise wenden wir diese Funktion an, wenn wir das berechtigte Nebeneinander des wissenschaftlichen und religiösen Standpunktes zu einem Leben nach dem Tod anerkennen oder wenn wir unser Verhalten am Arbeitsplatz mit unserer Selbstwahrnehmung in unseren privaten Beziehungen in Einklang bringen müssen.“
Introvertierte Intuition verhilft uns, in einer verfahrenen Situation Abstand zu gewinnen und sie aus einem anderen Blickwinkel heraus zu betrachten und dadurch im Endeffekt neu zu bewerten. Ein radikales Beispiel für eine derartige Neubewertung war die Annahme von Nikolaus Kopernikus, die Erde müsse sich richtigerweise um die Sonne drehen. Mit dieser Aussage veränderte Kopernikus nicht nur die Sicht der Menschen auf die Sterne sondern brachte auch ein Weltbild zum Wanken.

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