C. G. Jung unterscheidet zwei Arten der Wahrnehmung: Empfinden und Intuition.
Empfinden (S) bezieht sich auf jene Fähigkeit unseres Gehirns, Reize aus unserer Umwelt wahrzunehmen und zu verarbeiten und uns das Ergebnis dieses Vorgangs bewusst zu machen.
Wenn wir eine genaue Vorstellung von der Beschaffenheit unserer Umwelt entwickeln, wenden wir die Empfindungsfunktion an. Empfinden ist insofern gleich bedeutend mit der sinnlichen Wahrnehmung unserer Welt. Davon zu unterscheiden ist die Intuition, worunter nach der jung‘schen Terminologie eine übersinnliche Wahrnehmung zu verstehen ist.
Bei der sinnlichen Wahrnehmung richten wir unsere Aufmerksamkeit auf das sinnlich erfassbare Geschehen. Wir nehmen nur die Dinge wahr, die wir tatsächlich mit unseren „fünf“ Sinnen erfassen können.
Je nach Ausrichtung der Empfindungsfunktion werden uns dabei unterschiedliche Sinneseindrücke bewusst. Wenn die Richtung der Empfindungsfunktion nach innen geht, spricht man von introvertiertem Empfinden. Wenn wir hingegen die sinnliche Wahrnehmung nach außen richten, handelt es sich um das extravertierte Empfinden.
Introvertiertes Empfinden (Si)
Dieser Vorgang entspricht dem Begriff des Erinnerns im allgemeinen Sprachgebrauch. Beim introvertierten Empfinden fallen uns jene Teile eines Geschehens auf, dem wir schon in der Vergangenheit begegnet sind. Diese alten Anteile des Geschehens vergleichen wir mit dem gegenwärtigen Geschehen. Standardbeispiele für die Anwendung dieser Funktion durch alle Typen sind:
- sich an ein bekanntes Gesicht erinnern
- erkennen, dass man dieses Getränk schon einmal getrunken hat
- feststellen, dass die Currywurst bei Konnopke anders schmeckt als bei Curry 36
- auf der Reisekarte von Deutschland Berlin suchen und dabei von der Mitte nach rechts oben wandern
Wenn wir Si anwenden, haben wir im Allgemeinen eine Erwartungshaltung an das, was demnächst eintreten wird. Wir würden uns zum Beispiel arg wundern, wenn wir Berlin nicht auf der Karte oben rechts finden. Der Inhalt von Si hängt stark von den Erfahrungen des Anwenders ab. Jemand, der noch nie eine Deutschlandkarte erblickt hat, wird die Karte anders betrachten. Si greift auf den Schatz unserer Erinnerungen zurück. Unsere Erinnerungen können uns die Welt erklären.
Manchmal machen uns unsere Erinnerungen aber auch blind für das, was tatsächlich vor uns abläuft. Ich habe einmal in meinem Regal nach einem Buch mit einem blauen Einband gesucht. Nach mühevoller vergeblicher Suche begann ich die Titel der Bücher durchzulesen. Als ich das Buch fand, stellte ich fest, dass der Buchrücken entgegen meiner Erwartungen weiß war. So stand ich direkt vor dem Buch und konnte es trotzdem nicht sehen.
Extravertiertes Empfinden (Se)
Diese Funktion macht uns auf die tatsächliche Beschaffenheit unserer Umgebung aufmerksam.
Mit ihrer Hilfe erkennen wir die uns umgebende materielle Wirklichkeit. In Analogie zur Beschreibung des introvertierten Empfindens betrachten wir mit extravertiertem Empfinden jene Teile eines Geschehens, die ungewöhnlich sind und in uns neuartige, nie dagewesene Reaktionen auslösen. In diesem Fall sind wir gehalten, völlig neue Wege zu gehen, um diese Information zu analysieren und einzuordnen. Wir haben keine gespeicherten Eindrücke, auf die wir zurückgreifen können, um der Situation angemessen zu begegnen.Stattdessen bewegen wir uns eher wie Entdecker in einem unbekannten Land. Wir verlassen uns hierbei völlig auf die Rückmeldungen durch unsere Sinne.
Neben völlig unbekannten Sachverhalten greifen wir auch dann auf Se zurück, wenn sich das tatsächliche Geschehen in unserer Umwelt so stark verändert, dass wir ständig sensorische Rückmeldungen benötigen, um unsere Handlungen der aktuellen Situation anzupassen. Diese Funktion ist stark an den Gebrauch unseres Körpers und insbesondere unserer Hände gekoppelt. Typische Anwendungsbeispiele im Alltagsgeschehen, in denen der Schwerpunkt unserer Wahrnehmung auf dem extravertiertem Empfinden liegt und die im Repertoire der meisten Menschen mehr oder weniger als Fertigkeit vorhanden sind:
- ein Instrument spielen
- Auto fahren
- Walzer tanzen
- Ball spielen
- einen Knopf annähen
- Eierkuchen wenden
Aus den gewählten Beispielen ist ersichtlich, dass die Verdeutlichung von extravertiertem Empfinden besser gelingt, wenn es an einen im Außen sichtbaren motorischen Bewegungsablauf gekoppelt ist. Für die damit zusammenhängenden Abläufe in unserem Inneren fehlen uns zumeist die Worte. Grund hierfür ist, dass diese Funktion den zu langen Weg über unser Sprachzentrums im Gehirn umgeht. Wir greifen de facto auf einen nichtsprachlichen Teil unseres Gehirns zurück, wenn wir Se anwenden. Daher haben auch die Hauptanwender von Se – also die SP-Typen – eher Probleme, das Wesen dieser ihr Verhalten so prägenden Funktion in Wort zu fassen. Versuche doch mal zum Spaß jemandem, der noch nie mit dem Rad gefahren ist, zu erklären, wie man Fahrrad fährt! Extravertiertes Empfinden ist bei genauerer Betrachtung ein sehr körperlicher Vorgang, der besser ohne Worte auskommt.
Eine trotzdem sehr schöne sprachliche Beschreibung dieser körperlichen Verbundenheit stellt diese Filmszene in “Billy Eliot“ dar. Darin beschreibt Billy nach dem Vortanzen für die Aufnahme an die königliche Balletschule die Empfindungen, die das Tanzen ihn ihm auslöst.