Denken (T) und Fühlen (F) sind Urteilsfunktionen. Im Gegensatz zu den Wahrnehmungsfunktionen, welche uns einfach nur zur Aufnahme von Informationen veranlassen, bewegen uns die Urteilsfunktionen dazu, aktiv etwas zu unternehmen. C. G. Jung bezeichnet die Urteilsfunktionen als rationale Funktionen und die Wahrnehmungsfunktionen als irrational. Dabei bedeutet irrational nicht unvernünftig sondern eher „ außerhalb des von der Vernunft Erfassbaren“. C. G. Jung will damit ausdrücken, dass die irrationalen Wahrnehmungsfunktionen alles erfassen, auch dann, wenn wir hierfür keine vernünftige Erklärung haben. Die Urteilsfunktionen hingegen haben immer ein Ziel. Sie betrachten einen bestimmten Auszug der Realität und wenden hierauf die Gesetze der Vernunft an. Diese Gesetze existieren nicht nur im Denken sondern auch im Fühlen, weshalb entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch auch das Fühlen eine rationale Funktion ist.

Wahrnehmungsfunktionen führen zur Wahrnehmung unserer Umgebung und unserer Innenwelt, so wie sie tatsächlich ist, und bereiten damit den Boden für ein anschließendes Urteil durch die Urteilsfunktion. Diese Urteile unterliegen Gesetzmäßigkeiten und können nach außen gerichtet sein. Dann führen sie dazu, dass wir unsere Umwelt verändern bzw. bestimmte Handlungen ausführen, deren Ausführungen objektiv notwendig sind (Te) oder aber den Erwartungen unserer Mitmenschen entsprechen (Fe). Sie können sich jedoch auch nach innen richten und bewirken dann eine Veränderung in unserem Denken (Ti) und Fühlen (Fi) über unsere Umwelt. Wir bilden uns eine Meinung (Fi) oder erkennen wichtige Zusammenhänge bzw. beginnen ein Geschehen zu verstehen (Ti).

F legt das Ziel fest und T führt zum Ziel: Wer kein Verständnis für die Zusammenhänge hat, dürfte kaum die richtigen Schritte erkennen, die nötig sind, um der Umsetzung seines Zieles näher zu kommen. Ein starker T-Einfluss führt zwar dazu, ein Ziel schnell und effektiv zu erreichen (besonders im Fall von Te), die Frage bleibt jedoch offen, ob diese Ziele kompatibel sind mit unseren Bedürfnissen bzw. den Bedürfnissen unserer Mitmenschen oder welche Ziele überhaupt verfolgt werden sollen. Beide Funktionen sind notwendig, um im Alltag zu überleben. Beide Funktionen sind gleich wichtig.

Ein weiterer Aspekt bei der Betrachtung der zwei Urteilsfunktionen – Denken und Fühlen – sind die immer noch unterschwellig vorhandenen Vorstellungen von bestimmten Geschlechterrollen und damit zusammenhängenden Eigenschaften.

Auch wenn sich unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat und viel getan wurde, um Ungleichheiten zwischen Mann und Frau zu beseitigen, dürfte kaum zu verleugnen sein, dass die Mehrheit der Menschen Frauen bestimmte Eigenschaften zuweist, die mit dem Inhalt der Gefühlsfunktion beinahe deckungsgleich sind und Männern vornehmlich Eigenschaften zuschreibt, die mit dem Inhalt der Denkfunktion stark kompatibel sind. Interessanterweise spiegelt sich dieses Klischee auch in der tatsächlichen Verteilung von F-Typen und T-Typen in der Bevölkerung wieder, wie Statistiken aus den USA zeigen. Demnach sind zwei Drittel aller Frauen F-Typen und zwei Drittel aller Männer T-Typen. Diese Zahlen dürften daher den allgemeinen Klischees über typisch männliches bzw. weibliches Verhalten Rechnung tragen. Zugleich zeigen sie jedoch auch, dass eine hohe Anzahl Menschen beiderlei Geschlechts (genaugenommen ein Drittel) nicht komplett mit den Erwartung an ihre gesellschaftlich zugedachte Rolle konform gehen.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf folgende Beobachtungen hinweisen:

T-Frauen sind weniger extrem in der Ausprägung ihrer Denkfunktion als T-Männer und umgekehrt: F-Männer besitzen eine weniger ausgeprägte Gefühlsfunktion als F-Frauen.

Sowohl F-Männer als auch T-Frauen haben im Durchschnitt einen niedrigeren Wert bei MBTI-Tests als der Durchschnitt für T bzw. F des anderen Geschlechts. Dies entspricht auch meinen persönlichen Beobachtungen, wonach T-Frauen im Allgemeinen deutlich besser in der Handhabung ihrer Gefühlsfunktion und weniger extrem in der Ausübung ihrer Denkfunktion sind als ein durchschnittlicher T-Mann. Dies hat auch zur Folge, dass T-Frauen zumeist deutlich weniger die typischen Schwächen eines T-Typs zeigen bzw. besser in der Lage sind, hiermit umzugehen. Dies gilt umso mehr, wenn die Denkfunktion an zweiter Stelle kommt oder anders ausgedrückt die Frau kein dominanter Denker ist. Dies könnte zum einen biologisch erklärbar sein, aber auch eine Folge der unterschiedlichen Sozialisierung der Geschlechter, die insbesondere Mädchen beeinflusst, mehr auf ihre Gefühle und die Gefühle anderer zu achten. Ähnliches lässt sich für Männer sagen. Während Frauen schon mal entsprechend der Klischees ihre Gefühlsfunktion überbetonen dürfen und damit weniger Probleme haben auch mal richtig unlogisch zu handeln, leisten sich F-Männer hier eher weniger Ausrutscher und sind zumeist empfindlicher als Frauen ihres Typs, wenn ihre logischen Fähigkeiten hinterfragt werden. Bemerkenswert erscheint mir, dass Fi-Männer oft selbstzentrierter sind und eher ihre Interessen unter Vernachlässigung der Bedürfnisse anderer verfolgen als Fi-Frauen desselben Typs, die andere Menschen und deren Interessen mehr in den Vordergrund ihrer Bemühungen stellen.

Die gängigen Profile der MBTI-Typen sind klischeeartige Verallgemeinerungen des Durchschnitts aller Menschen, die diesem Typ zugeordnet werden. Allein darum weichen sie vom Einzelfall stark ab. Diese Abweichung ist jedoch im Fall von F-Männern und T-Frauen wiederrum besonders hoch und führt oft dazu, dass diese Schwierigkeiten haben, sich korrekt einem der 16 Profile zuzuordnen. Wie bereits angedeutet, sind die Schwächen bei F-Männern und T-Frauen meist nicht so ausgeprägt, da diese im Allgemeinen mehr Gelegenheit zur Ausübung ihrer vernachlässigten „Geschlechts“funktion im Laufe ihrer Kindheit erhalten.

Solltest du Zweifel haben, ob du die T oder F-Funktion bevorzugst, ist es hilfreich, wenn du die gängigen Geschlechterklischees ignorierst und dich mit dem Inhalt der einzelnen Funktionen in ihrer unterschiedlichen Ausrichtung beschäftigst, um deine dominante Funktion und deine zweite Funktion zu bestimmen. Bitte bedenke bei deiner Einschätzung der eigenen Funktionen, dass eine stärker ausgeprägte Gefühlsfunktion kein Indikator für fehlendes logisches Denken ist. Gefühlsmenschen sind also nicht per se dümmer als Denker. Sie verspüren jedoch in der Regel weniger das Bedürfnis, ihre Umwelt logisch zu ergründen bzw. wenden ihr logisches Denken nur zur Erreichung ihrer gefühlsmäßig definierten Ziele an. Wer Gefühle dem Denken vorzieht, ist meist besser in der Lage, seine Gefühle oder auch die Gefühle anderer richtig zu interpretieren und als Gradmesser für seine Handlungen zu nehmen. In unklaren Situationen sind Gefühlsmenschen schneller bereit, auf die Gefühle zu hören und weniger daran interessiert, einen Sachverhalt logisch zu durchleuchten bzw. empfinden weitergehende Aufklärung als unnötig. Ein das Denken vorziehender Mensch wird hingegen eine höhere Bereitschaft haben, einen Sachverhalt komplett aufzuklären und oft nicht in der Lage sein, auf seine Gefühle zu hören bzw. diese richtig zu deuten. Oft wird er trotz gefühlsmäßig richtiger Einordnung eine genaue Aufklärung aller Umstände vorziehen bzw. Handlungen ausüben, die seine persönliche Meinung unberücksichtigt lassen.

Denken und Fühlen